In der Schule gab es die bösen Jungs, die den anderen Schülern während des Unterrichts von der hinteren Reihe aus mit den Fingern an die Ohren schnalzten und darauf setzten, dass trotz des Schmerzes niemand gegen sie aufbegehrt. Möglicherweise gehörte Wladimir Putin auch zu diesen Jungs.
Viele sagen, der russische Präsident verstehe nur die Sprache der Stärke. Lässt man ihn gewähren, fasst er dies als Einladung zum Weitermachen auf und reizt die Schmerzgrenze immer weiter aus. Er könne nur gestoppt werden, indem man ihm mit Entschlossenheit und Stärke entgegentritt und ihn sowie seine Vasallen klar in ihre Grenzen weist. Leute wie Putin, so ein häufig geäußerte Ansicht, müssten erfahren, dass ihr ungezügeltes Treiben und Morden heftige Gegenwehr erzeugt, die auch ihnen Schmerzen verursacht. Wahrscheinlich ist das so, und wahrscheinlich ist dies auch die einzige Lösung, den Kremlherrscher und seine Untertanen zur Räson zu bringen.
Diese Sichtweise hat allerdings einen Haken. Eine weitere Annahme über Putins Wesen ist nämlich auch, dass er nicht verlieren kann und will. Das ist ein Problem, denn wie reagieren die bösen Schulbuben, wenn sich ihnen im Unterricht doch ein Schüler jemand widersetzt und den Lehrer als obere Instanz zur Hilfe holt? Sie warten nach der Schule hinter dem nächsten Baum und verprügeln den Aufmüpfigen erst recht.
Möglich, dass dieses Verhalten auch Putin zueigen ist. Kriegt er nicht, was er will – wobei ja nicht mal wirklich klar ist, was er mit seinem Ukraine-Feldzug eigentlich will – könnte es sein, dass er erst recht unberechenbar reagiert und zur ganz großen Keule greift. Das mögen chemische Waffen sein. Das könnte aber auch der Einsatz von Atombomben sein. Nach dem Motto: Ich habe nichts zu verlieren, also hinterlasse ich völlig verbrannte Erde.
Die Psyche Putins ist ein entscheidendes Kriterium bei der Frage, welchen Verlauf dieser Krieg nimmt. Nach allem, was wir wissen und sehen, reagiert er gekränkt und verletzt, wenn er seine Ziele nicht erreicht. Das bringt die Ukraine wie auch den Westen in die Bredouille: Denn zum einen müssen und wollen sie sich mit aller Härte Putins Armeen in den Weg stellen und sie wieder hinter die ukrainischen Grenzen zurückdrängen. Soll aber die ganz große Katastrophe vermieden werden, müssen sie darauf achten, Putin nicht zu sehr in die Enge zu treiben. Denn Putin braucht einen Sieg, er muss für sich und Russland einen Gewinn davon tragen. Er muss den Seinen sagen können: Seht her, das habe ich für euch erreicht. Nur so kann er diesen Waffengang rechtfertigen und sein Gesicht wahren.
Möglicherweise wird der Krieg nicht zu beenden sein, ohne dass die Ukraine Putin etwas anbietet. Kiew muss ihm einen Knochen hinwerfen, damit er sich zufrieden davontrollen kann. Es könnte beispielsweise darauf hinauslaufen, dass die Regionen Luhansk und Donezk als unabhängige Gebiete mit eigener Autonomie und Verwaltung anerkannt werden. Vielleicht muss sich die Ukraine auch dazu bekennen, auf lange Sicht oder dauerhaft von Nato-Ambitionen Abstand zu nehmen.
Wie auch immer die Lösung für einen Frieden aussieht – sie wird für die Ukraine wie auch den Westen nicht für umsonst zu haben sein. Denn Putin muss ruhiggestellt werden.