Die Krise ist hartnäckig. Obwohl die Krise im Grunde einen vorübergehenden Zustand charakterisiert, liegt ihr Phänomen in der täglichen Wiederkehr. Die Krise lauert hinter jeder Ecke. Sie begegnet Dir in Form beunruhigender Schlagzeilen an den Zeitungskiosken. Sie krallt sich in Deinem Portemonnaie fest: Das Rechnen mit vier Nullen fällt schwer, zumal sich der Teiler täglich ändert. In der Krise bekommt der Umtauschkurs Beine, während Du in der Wechselstube wartest. Die Fabriktore werden mit schweren Ketten verschlossen und auf den Straßen schlurfen plötzlich um zwei Uhr nachmittags Männer um die 35 herum.
Enrique ist ein Produkt dieser Krise. Es war vor rund vier Jahren, als er begann, sich zurückzuziehen. Gezwungenermaßen. „Wegen der Krise“, sagt er. Seine Firma hatte immer weniger Aufträge. Eines Morgens rief der Inhaber zur Betriebsversammlung. Noch am selben Tag räumte Enrique seinen Schreibtisch.
Er hielt sich noch eine Weile über Wasser. Er brauchte sein Erspartes auf. Aber am 16. des übernächsten Monats war Schluss. Er konnte Bus und Bier nicht mehr bezahlen. Daraufhin schloss er die Wohnungstür von innen zu und entschied, seine vier Wände fortan nicht mehr zu verlassen. Immerhin, die Wohnung, ein Produkt besserer Zeiten, gehörte ihm.
„Krise? – interessiert mich nicht mehr, hat er damals nach dem Wandel in seinem Leben lächelnd erklärt. „Erhöhung der Fahrpreise um 50 Prozent; Salami 70 Prozent teurer als gestern; Telephongebühren erneut um 400 Prozent gestiegen – interessiert mich nicht.“ Er zuckte kühl mit den Schultern und riss sich eine Banane von der Staude, die neuerdings in seinem Wohnzimmer gedieh. In der Ecke, dort wo der Schrank stand, züchtete er fortan Kartoffeln und Mais. Spargel in der Küche, Kohl und Weintrauben im Flur. Auf dem Balkon hatte der letzte Regenguss die Eimer mit reichlich Trinkwasser gefüllt.
„Ich bewegte mich möglichst wenig, um den Abrieb der Schuhsohlen gering zu halten. Meistens lag ich auf meiner Pritsche und tat gar nichts. So verbrauchte ich am wenigsten Energie.“ Enrique lacht, wenn er zurückdenkt.
„Ich lebte autark und unabhängig von meiner Umgebung in meinem „Wohnzimmer Amazonas“ – so nannte ich das Pflanzendickicht in meinen drei Räumen, 17. Stock, Stadtzentrum. Mutter Natur gab mir alles, was ich brauchte. Die Fenster hatte ich Sommer und Winter geöffnet, und der Wind trieb Regen und Staub in die Räume. Selbst Vögel, Meerschweinchen und Katzen hatten sich zwischen Küche und Klo niedergelassen.
Wenn es kalt wurde oder ich kochen wollte, legte ich einen Holzscheit auf die Feuerstelle, die ich aus dicken Backsteinen in der Mitte des Wohnzimmers errichtet hatte. Zeitung, Radio, Fernseher, Telephon schaffte ich dagegen ab,“ erinnert er sich.
„Alles in allem bin aber ziemlich zufrieden gewesen. Ich hatte mich mit meiner Situation abgefunden, hörte dem Gesang der Vögel zu, schlief ausgiebig und las die alten Bücher zum drittel Mal. Mich von den monatlichen Abgaben für Licht, Wasser, Fahrstuhl und Müllabfuhr auszuschließen hat allerdings viel Mühe gekostet. Aber hätte ich denn für den Aufzug zahlen sollen, wenn ich ihn gar nicht mehr benutzte?
Drei Jahre lebte ich so. Die Krise entwickelte sich, ohne dass sie mich weiter betraf. Manchmal zogen unter meinem Fenster Demonstranten vorüber, und ich konnte den Rufen der wütenden Menschen entnehmen, dass der Preis für Rasierschaum wieder um 180 Prozent gestiegen sein musste.
Eines Tages begann mein Körper plötzlich Mangelerscheinungen zu zeigen. Ich vermutete, dass ihm die ständige Zufuhr von Maiskolben und Regenwasser nicht gut bekam. Außerdem machte mir im Verlauf der Jahre die Abgeschiedenheit des 17. Stocks mehr und mehr zu schaffen. Das wirkte sich schlecht auf meinen Gemütszustand aus. Auch hatte ich zunehmend heftigere Auseinandersetzungen mit meinen Unterbewohnern, die sich über angebliche Tropfen an ihrer Wohnzimmerdecke beklagten und nun auf der Suche nach der Ursache Einlass in meine Wohnung verlangten.
In dieser Zeit kamen plötzlich ständig fremde Leute an meine Tür. Einmal sogar eine ganze Familie, die fragte, ob sie mal reinschauen dürfte. Die Krise hätte ihre sämtlichen Ersparnisse aufgezehrt. Nun sei man auf der Suche nach einer alternativen Lebensform. Man habe erfahren, dass ich bereits einen neuen Weg gefunden hätte. Eine Woche später klingelten die nächsten Leute bei mir. Auch ihnen zeigte ich meinen Küchenkulturacker. Dann kamen die Menschen in immer kürzeren Abständen. Alle wollten wissen, wie ich so gut durch die Krise kam. Sie boten mir sogar Geld an.
Ich dachte mir, dass ich Gleichheit für alle herstellen musste und verlangte von jedem Besucher fünf Dollar. Man sagte mir, dass sei angesichts der Inflation angemessen. Immerhin kostete die Zugfahrt nach Pasing schon zwölf Dollar.
„Dollar?“, fragte Enrique die Leute.
„Wissen Sie denn nicht, dass der Euro längst abgeschafft ist?“, sagten die Leute.
„Tja“, – Enrique zieht das Wort in die Länge – „es hat sich viel verändert. Die Leute rannten mir förmlich die Bude ein, je länger die Krise dauerte. Alle wollten wissen, wie man in einer Wohnung Bananen und Tomaten züchtet.
Nach drei Monaten kaufte ich mir ein Appartement, gehobene Ausstattung. Ich konnte mir eine tolle Küche und ein neues Auto leisten, gehobene Klasse. Es gab ja nur noch diesen einen Hersteller. Es ging mir plötzlich finanziell richtig gut. Ich musste das Geld nur schnell genug ausgeben, damit es die Inflation nicht auffraß.
Enrique reibt sich die Augen und blickt träumend in die Ferne.
Von da an habe ich ein Doppelleben geführt: Unter der Woche bürgerlich-normal, während ich an den Wochenenden weiterhin das Krisenprodukt spielte. Ich war, sozusagen, schizophren. Verstehen Sie? Ich meine, ich war reich. Ich konnte mir ast alles leisten. Und trotzdem schloss ich regelmäßig meinen „Wohnzimmer-Amazonas“ auf, legte mich still auf meine Pritsche oder entfachte im Ofen ein kleines Feuer und wechselte hin und wieder einige Worte mit den Besuchern, die in einer langen Schlange durch meine Wohnung gingen.
Um mir das Leben zu erleichtern, führte ich Öffnungszeiten ein: Von neun bis 12 und von 14 bis 17 Uhr. Den Eintritt erhöhte ich aufgrund des hohen Andrangs auf zehn Dollar. Beratungsstunden zu Krisenthemen rechnete ich extra ab.“
Enrique lehnt sich vor: „Ich kann nur hoffen, dass die Krise noch lange anhält.“ Mit einem Grinsen im Gesicht fügt er hinzu: „633 Prozent Inflation im Monat füllen meinen Kühlschrank. Ich esse Bananen aus silbernen Schälchen.“
Und in einem Nachsatz, leiser: „Seitdem ich Berater der Regierung in Sachen Krise geworden bin, mache ich mir über unsere – Entschuldigung: meine Zukunft – überhaupt keine Gedanken mehr.“