06:59 Uhr

Makowsky ist spät dran. Zu spät. 6.39 Uhr. Er bindet seine Armbanduhr um das Handgelenk, zieht die Haustür hinter sich zu, stürzt die Treppe hinunter und zurrt während des Gehens den Krawattenknoten fest. Er darf keine Zeit mehr verlieren. Der Bus wartet nicht.

Makowsky hat seinen Arbeitsweg genau im Kopf: Fünfeinhalb Minuten zu Fuß, neun Minuten mit dem 34er Bus, um 6.59 Uhr weiter mit der U5 zum Westbahnhof, 17 Minuten lang. Von dort noch einmal sechs Minuten zu Fuß bis in sein Büro. Herr Hagedorn, Makowskys Vorgesetzter, legt Wert darauf, dass seine Angestellten exakt um halb acht die Arbeit aufnehmen. Hagedorn sagt, dass Pünktlichkeit ein Ausdruck von  Ordnung sei. Wer sich selbst nicht organisieren könne, werde im Leben keine Leistung erbringen. Weder für sich noch für die Firma.

Makowsky hastet an dem Gardinengeschäft vorbei, auf den Feinkostladen zu und beim Import-Export um die Ecke. 6.43 Uhr! Eine Minute zu spät!

Makowsky ignoriert eine rote Ampel und das Hupen wütender Autofahrer. Kurz darauf passiert er eine Bar,  aus der die letzten Rauchschwaden der vergan­genen Nacht ziehen, dann der Dönerladen, in dem noch die Fleischballen des Vortages am Spieß hängen, schließlich Import-Export-Elektroshops, die Fenster gesichert durch herabgelassene Gitter.

Im Laufschritt folgt er dem Gehweg, bis er die Bushaltestelle sieht. Noch 80 Meter. 6.46 Uhr. Der 34er fährt ein. Makowsky rennt. Wenn er diesen Bus verpasst, wird er auch die U5 um 6.59 Uhr nicht kriegen. Er würde mindestens zehn Minuten zu spät in seinem Büro ankommen. Herr Hagedorn hätte dafür kein Verständnis.

Noch zehn Meter bis zum Bus. Makowsky macht ausholende Schritte, rempelt eine Frau an, springt und quetscht sich durch die schließende Tür. Schweiß steht auf seiner Stirn. Er ringt nach Luft. Er hasst diese Eile. Schon am Morgen ein Getriebener, ein Sklave der Zeit.

Die Leute im Bus stehen dicht. Strenges Parfüm mischt sich mit kaltem Zigarettenrauch. Aus den Gesichtern spricht Langeweile. Neun Minuten dauert die Fahrt. Wenn keine roten Ampeln dazwischen kommen. Am Ende bleiben ihm vier Minuten, um in die U5 umzusteigen. Die U5 muss er erreichen. Sonst ist er erledigt. Herr Hagedorn verlangt absolute Disziplin von seinen Untergebenen: „Aufopferung,  Penibilität, Ausdauer“ sind zentrale Begriffe seines Chefdaseins. Manchmal, wenn Hagedorn mit  ausholenden Schritten durch die weiten Flure der Firma schreitet, getrieben von der Furcht, seine Angestellten könnten nachlassen in ihrem Bemühen um das Fortkommen des Betriebes, lässt er Makowsky im Vorbeigehen wissen: „Es interessiert mich nicht, was Sie außerhalb dieses Hauses machen. Doch wenn Sie hier sind, Makowsky, zwischen halb acht und 17 Uhr, erwarte ich von Ihnen bedingungslose Hingabe. Verstehen Sie? Bedingungslose Hingabe!“

6.49 Uhr. Ein Lieferwagen entlädt seine Ladung. Der 34er stoppt. Makowsky ahnt, nein er weiß es: Er ist eineinhalb oder zwei Minuten zu spät dran. Zeit, die ihm zum Umsteigen fehlen wird. Vielleicht hat er sich zu lange im Bett gewälzt, nachdem der Wecker klingelte. Ja, er hat sich heute gehen lassen. Er war nicht diszipliniert, schon beim Aufstehen nicht. Er hat etwas zu lange am Kaffee genippt, vielleicht auch zehn Sekunden zu lange die Zähne geputzt. Er hat, um es klar zu sagen, getrödelt heute morgen. Das rächt sich.

Die Tür! Er muss in die Nähe der Tür, muss als erster hinaus. Er quetscht sich an den Leuten vorbei. Egal, was sie denken. Der Bus stoppt. Es spült Makowsky hinaus auf den Bussteig und seine Gedanken davon. Für einen Augenblick ist ihm, als habe er das Gesicht von Hagedorn gesehen. Doch dann wird er weitergestoßen, auf die Rolltreppe zu, mit der er hinabtaucht in die Unterwelt dieser Stadt.

Eineinhalb Minuten eilt er der Zeit hinterher. Diese eineinhalb Minuten werden den gesamten Tag wie ein Dämon über ihm schweben, ihn begleiten, ihn treiben, ihn quälen. Es sind doch nur eineinhalb Minuten, versucht sich Makowsky einzureden. Doch der Versuch, die Dinge leicht zu nehmen, scheitert am Gedanken, wie ernst die Lage ist. Herr Hagedorn wird toben. Er wird nie vergessen, dass Makowsky zu spät gekommen ist. Er wird ihm dieses Vergehen bei jeder Gelegenheit vorhalten. Hagedorn wird ihn immer wieder an seine Illoyalität und in gewissem Maße auch an seine Inkompetenz erinnern. Ab heute wird über Beckmann das Stigma des Zuspätgekommenen hängen, der Fluch des Nachlässigen, der Hohn des Faulen und – ja, man kann es so sagen – jenes mitleidige Lächeln, das man für die Unfähigen übrig hat.

Er müsste schneller vorankommen. Doch die Masse bestimmt das Tempo. Keine Minute mehr bis zur Abfahrt der U5. Er hört bereits das helle Kreischen der Räder. 6.59 Uhr, die U5 natürlich, und Makowsky noch immer auf dieser Rolltreppe, inmitten all dieser Leute zur Bewegungslosigkeit verdammt.

Da steht der Zug. Makowsky nimmt die letzte Stufe der Rolltreppe im Sprung, schiebt sich an den Leuten vorbei, hetzt über den Bahnsteig. Er drängelt sich vor Frauen mit hochhackigen  Schuhen und kurzen Röcken, Männer mit abgewetzten Pullovern, vor Turnschuh- und Anzugträger, vor Raucher und Kinderwagenschieber, vor abgewetzte Sohlen und perfekt sitzende Kostüme. Er sucht nach Lücken, in der Menge, er schiebt einen Ausländer – Italiener, Spanier, Grieche? – beiseite mit den Worten „Sorry, please“, bis er nur noch wenige Schritt vor sich hat.

Plötzlich hört er dieses Wort, diese absolute Mahnung: „Zurückbleiben!“ Er hofft, dass noch zwei, drei weitere Sekunden vergehen mögen, in denen er Raum und Zeit gewinnt, Zeit, die er irgendwann an diesem jungen Tag verloren hat.

Doch zwei Meter vor ihm schließt sich die Tür.

Mit einem Mal fühlt sich Makowsky müde und erschöpft. Seine Hände zittern. Mit einem Tuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Er zündet sich eine Zigarette an. Ihm ist, als blickten die Leute mitleidig lächelnd auf ihn herab. Und wieder glaubt er, unter ihnen seinen Vorgesetzten, Herrn Hagedorn, zu erkennen.

Das geht so seit zehn Jahren. Jeden Morgen aufs Neue. Zehn Jahre Angst, er könnte auf seinem Weg ins Büro gegen die Zeit verlieren. Immer diese Furcht, es könne etwas dazwischen kommen: Ein Signal, das auf Rot steht. Eine Tür, die klemmt. Ein Lebensmüder, der sich vor die Bahn wirft. Makowsky kann das kaum noch ertragen: Die Hetze, die Leute, Hagedorn.

Zehn Minuten später fährt die nächste U-Bahn ein. Makowsky tritt lustlos an die Bahnsteigkante und lässt die Zigarette auf die Gleise fallen. Für einen Moment kreuzt sich sein Blick mit dem des Fahrers. Er glaubt darin das Weiße des Schreckens zu sehen. Makowsky lächelt. Eigentlich, sagt er sich, macht es keinen Sinn weiterzufahren. Hagedorn wird ihn vernichten. Die Türen öffnen sich. Makowsky tritt ein und setzt sich. Der Zug fährt an, hält, fährt weiter, immer weiter. Ein Kind schreit, ein Junge hört laute Musik. Zeitungen berichten von Bomben im Irak.

Plötzlich sieht Makowsky ihn  nur wenige  Schritte von sich entfernt stehen, von  den Leuten halb verdeckt: Hagedorn. Makowsky zuckt zusammen. Sein Vorgesetzter lächelt ihm zu, ja sicher, mit diesem eigenartig schmierigen Lächeln, das Makowsky an seine Pflicht Hagedorn und der Firma gegenüber erinnern soll.  Hagedorn hebt den Arm und deutet mit dem  Zeigefinger  auf  seine Uhr,  immer noch lächelnd und  wissend,  dass Makowsky ihm ausgeliefert sein wird, sobald er den Zug verlassen und das Büro betreten hat.

Makowsky fühlt sich elend. Der strafende Blick Hagedorns lastet auf ihm. Blut schießt ihm in den Kopf. Hagedorns Blicke sagen ihm, dass seine Verspätung durch nichts zu rechtfertigen sei. Dass er seine Arbeit offensichtlich nicht ernst nehme. Dass er kein Pflichtgefühl habe.

7.26 Uhr. Die Türen der U-Bahn öffnen sich. Die Leute schieben sich auf den Bahnsteig. Hagedorn tritt an Makowsky heran. Er macht eine einladende Bewegung, mit ihm hinaus zu gehen, und öffnet den Mund, als wollte er sagen, dass es nun also Zeit sei auszusteigen und über diese Sache ein ernstes Wort zu reden. Makowsky erhebt sich, macht ein, zwei Schritte zur Tür hin, immer dieses lächelnde Gesicht seines Vorgesetzten vor sich, als er wieder diese Stimme hört: „Zurückbleiben!“ Hagedorn, bereits draußen, ruft: „Makowsky, es wird Zeit!“

„Ja,  sicher“, sagt sich Makowsky, und denkt an die Zeit, die nicht mehr aufzuholen ist, die für heute und wahrscheinlich  für immer  dahin ist. Die Zeit, gesteht er sich  ein, hat ihren eigenen Rhythmus.  Sie ist unbestechlich. Makowsky macht einen weiteren  Schritt auf die Tür zu,  als diese sich plötzlich vor ihm schließt,  und er, auf der Schwelle stehend, halb draußen schon, in den Augen seines Vorgesetzten  ein  Funkeln  entdeckt. Hagedorn schreit, fast überschlägt sich seine Stimme, als er ruft:  „Kommen Sie endlich, Makowsky! Es wird Zeit!“ Hagedorn springt auf Makowsky zu, will ihn am Ärmel packen und ihn aus dem Zug zerren, obwohl es nun keinen Sinn mehr hat, weil doch die Tür bereits geschlossen ist und Makowsky drinnen. Nur die Scheibe trennt ihn jetzt von Hagedorn, der da draussen tobt und ihn, Makowsky, an die Pflicht und die Firma und die Zeit erinnern will.

Makowsky sieht, wie Hagedorn zu laufen beginnt, neben dem Zug und neben Makowsky her, ziemlich schnell schon und dunkelrot im Gesicht. Makowsky will ihm noch sagen,  dass es ihm leid tue, alles das, aber Hagedorn kann oder will ihn nicht hören,  läuft nur, fliegt fast dahin, über den Bahnsteig. Schon naht das Ende der Station und eine Mauer,  an der Herr Hagedorn hängenzubleiben droht,  als dieser mit einem lauten, langen – und  wie Makowsky meint,  resignierten – Schrei zu  Boden fällt,  noch einige Meter dahinrutscht, aber auch dabei hinter Makowsky hersieht, um schließlich erschöpft nahe der Bahnsteigkante liegenzubleiben.

Makowsky taucht in das Dunkel eines Tunnels ein. Er denkt nichts. Er denkt nicht einmal an Hagedorn. Als der Zug aus dem Tunnel herausfährt, sieht Makowsky Häuser und Schornsteine, schließlich Wälder und Wiesen. Irgendwann steigt Makowsky aus und geht zu Fuß weiter. Er weiß nicht, wohin und wie weit. Aber er muss sehr lange unterwegs gewesen sein, denn als er wieder beginnt, seine Umgebung wahrzunehmen, sprechen die Leute eine andere Sprache. Auch die Landschaft ist ganz anders als dort, wo er herkommt. Er setzt seinen Weg fort, immer auf einer imaginären Gerade. Es wird dunkel und dann wieder hell, unzählige Male, Regionen voller Schnee wechseln sich mit Wüsten ab und irgendwann tritt ein Mann auf ihn zu und fragt ihn nach der Zeit. Makowsky blickt auf sein Handgelenk und stellt erstaunt fest, dass da keine Uhr mehr ist.