Wer auf den Elbrus rauf will, muss mehr als den Berg bezwingen
Für viele Geographen und Alpinisten ist klar: Nicht der Mont Blanc, sondern der Elbrus ist der höchste Berg Europas. Wer diesen 5642 Meter hohen Kaukasus-Riesen besteigen will, muss nicht nur der Höhe, den Stürmen und der Kälte trotzen. Er muss auch eine Reise durch den real zerfallenden Sozialismus auf sich nehmen.
Schon am Flughafen der Kaukasus-Stadt Mineralye Vody ist alles ganz anders. Allein der offen zur Schau getragene Besitz einer Kamera kann den temporären Verlust des Reisepasses, der Kamera und des eingelegten Filmes zur Folge haben. Auf jeden Fall will der Uniformierte Wachmann 50 Dollar. Ohne Quittung natürlich. Doch die Willkür gehört auf der Reise zum Elbrus ebenso dazu wie die Unzulänglichkeit. Mehr
Zehntausende standen schon auf dem Mont Blanc. 4848 Meter hoch. Der höchste Berg Europas, glauben viele. Tatsächlich steht höchste Berg Europas 2500 Kilometer weiter östlich, im Kaukasus, sagen andere. Der Elbrus. 5642 Meter hoch. Hinter diesen beiden Meinungen verbirgt sich ein alter Streit der Geographen, Geologen und Alpinisten. Im Kern geht es dabei um die Frage: Wo verläuft geografisch wie auch politisch die südöstliche Grenze Europas? Viele Bergsteiger haben die Frage für sich längst entschieden: Die Hauptkette des Kaukasus ist nicht nur die Grenze zwischen Russland im Norden und Georgien im Süden. Sie ist auch die Trennlinie zwischen Europa und Asien. Damit liegt für sie der Elbrus, der zehn Kilometer nördlich des Kaukasus-Hauptkammes steht, in Europa.
Grund genug für jährlich hunderte von Bergsteigern, den buckligen und vereisten Doppelgipfel zu erklimmen. Das ist zwar keine Expedition ins Unbekannte mehr. Die Annäherung an diesen markanten, buckligen Doppelgipfel ist aber eine aufregende Reise in ein faszinierendes Hochgebirge. Sie verlangt neben reichlich Kondition eine Portion Gelassenheit gegenüber den russischen Unzulänglichkeiten.
Das beginnt schon am Flughafen von Mineralnye Vody, dem Einfallstor zum Kaukasus. Täglich wird es über Moskau und einmal wöchentlich von München angeflogen. Zwar sind hier in der Nähe vor Wochen viele Menschen bei der Explosion eines Bombe in einem Pendlerzug ums Leben gekommen. Tschetschenen werden offiziell dafür verantwortlich gemacht. Für ankommende Bergsteiger ist jedoch die Gefahr ungleich größer, Opfer der russischen Bürokratie zu werden. Noch auf dem Flughafen von Mineralnye Vody droht man ihnen an, sie um 50 Dollar zu erleichtern. Und das nur, weil sie noch auf dem Vorfeld die Kamera vor das Auge gehoben haben. Alternativ bieten die uniformierten Männer an, mit ihnen auf die Wache zu kommen. „Das dauert mindestens sechs Stunden“, stöhnt Vladimir, der russische Führer der deutschen Bergsteiger. Auch auf der vierstündigen Fahrt nach Terskol ist Geduld nötig.
Immer wieder zwingen Polizisten den Kleinbus mit den Fremden zum Halten. Nicht nur die tschetschenische Grenze ist nah. Auch Georgien ist nur einen Steinwurf entfernt. Ausschlaggebender als das ist aber die Willkür. Bei jedem Auto, dass die Polizisten anhalten, finden sie auch einen Mangel. Bestimmt. Erst wenn Vladimir die Staatsdiener mit einem Handschlag Bakschisch zufrieden stellt, lassen sie die Alpinisten-Gruppe ziehen. Später dann präsentiert sich am Wegesrand ungeschminkt der real zerfallende Sozialismus: Die Stahlwerke in der Minenstadt Tyrnyauz im Baksan-Tal machen den Eindruck, als habe eine Bombe eingeschlagen. Und in Terskol, dem letzten Dorf des Tales, wühlen Kühe im Müll, der sich über die Straßen verteilt.
Zwei Kilometer weiter oben das mehrstöckige Azau-Hotel: Eine leere Betonruine im lichten Wald. Vladimir sagt, zur Zeit der Sowjetunion sei es ein blühendes Haus gewesen. Doch mit dem Zusammenbruch des Systems kamen auch die Plünderer. Sie nahmen jedes Fenster, jeden Wasserhahn, jede Fußmatte mit. Für das, was vorher dem Staat gehörte, fühlt sich heute niemand mehr verantwortlich.
Gleich nebenan die Unterkunft der Bergsteiger, die Logovo-Lodge: Die Heizung lässt sich nicht runterregeln. Auch die Fenster lassen sich nicht öffnen. Doch solche Unzulänglichkeiten relativieren sich beim Blick auf die Berge: Tief verschneite Vier- und Fünftausender beherrschen das Tal.
Der Cheget-Sessellift, eine altersschwache Bahn mit metallenen Einer-Gondeln, soll uns nach oben bringen. Die Skier und Stöcke quer zum Körper lasse ich mich in den Sitz plumpsen. Plötzlich zieht es meine Füße unter die Gondel, fast hebelt es mich aus dem Sitz, die Kniebänder sind zum Zerreissen gespannt, der Meniskus knirscht. Irgendwie schaffe ich es, die Füße wieder freizukriegen. Was ist passiert? Offenbar hält es niemand für nötig, in der Einstiegszone den Schnee wegzuschaufeln. So bleiben nur wenige Zentimeter zwischen Gondel und Boden. Die einzige Möglichkeit, dies heile zu überstehen, besteht darin, die Beine bis zu den Ohren hochzuziehen. Aber woher soll der Neuling das wissen?
Der Gipfel des 3500 Meter hohen Cheget entschädigt für das Malheur. Direkt gegenüber beherrscht der wuchtige Doppelgipfel des Elbrus die Szenerie, unser Ziel in den nächsten Tagen.
Mehrere Tage akklimatisieren sich die Bergsteiger mit Besteigungen von Drei- und Viertausendern. Erst dann wagen sie sich an ihr Hauptziel, den Elbrus. Mit der Seilbahn schweben sie bis auf 3470 Meter hinauf. Seit dem Ende der sechziger Jahre tut die Bahn ihren Dienst. Und das, ohne dass man sich übermäßig um sie gekümmert hätte: An den Tragpfeilern der Bergstation bröckelt der Beton, darunter lugt das Stahlskelett heraus. Vladimir sagt: „Im Kaukasus ist es so. Es funktioniert, aber nichts ist perfekt.“ Immerhin, das Laissez-Faire-Denken hat auch in Südrussland seine Grenzen. Die untere Sektion der Elbrus-Bahn wird gerade durch eine moderne Kabinen-Umlaufbahn ersetzt.
Einige hundert Meter höher und eine kalte Sessellift-Fahrt weiter erreichen die Bergsteiger die Karabashi-Lodge. Von diesem Lager aus werden sie den Gipfelanstieg versuchen. Karabashi, das sind zehn weiß-rote Metalltonnen, die sich eng aneinander schmiegen. Jede bietet Platz für fünf Bergsteiger. In ihrem Innern kämpfen elektrische Heizstrahler gegen die Kälte. Glühende Drähte in offenen Keramikgefäßen saugen das bißchen Energie hier oben auf.
Tanja ist eine fröhliche Frau. Sie singt beim Kochen, obwohl sich die Temperatur in dem Küchencontainer klar unter Null hält. Eis liegt auf den Holzbänken, Eis klebt auch an den Wänden des Containers, in den kein Tageslicht dringt. Wenn Tanja den Gasherd anwirft, tropft Wasser von der Decke. Doch die Köchin aus der Provinzhauptstadt Naltschik lässt sich nicht stören: Nach eineinhalb Stunden serviert sie Bortsch, eine russische Suppe. Danach Fleisch mit Püree, dazu Gurken und Radieschen.
Vladimir gibt die Losung für den Gipfeltag aus: Um zwei Uhr früh aufstehen, um drei Uhr Abmarsch. Grimmige Kälte schlägt den Bergsteigern entgegen. Das Thermometer zeigt 26 Grad unter Null. Wind zerrt an den Daunenjacken der Alpinisten. Obwohl sie ihre Skier durch die Nacht die Hänge hinaufschieben, sind ihre Hände und Füße mehr kalt als warm. Erst als sich im Osten, irgendwo über dem Kaspischen Meer, der neue Tag mit einem hellen Streifen ankündigt, wissen sie, dass sie das Schlimmste überstanden haben.
Um neun Uhr machen sie eine Pause im Sattel, der zwischen den beiden Gipfelkalotten liegt. 5400 Meter hoch. Nur noch 240 Höhenmeter bis auf den Westgipfel. Ein steiler Hang, eine Flachpassage, ein Aufschwung. Ihr Atem geht schwer, der Wind bläst immer noch eisig kalt. Eine letzte Erhebung, dann stehen die Bergsteiger aus dem fernen Deutschland auf dem höchsten Punkt Europas: 5642 Meter hoch. Oder ist dies doch nicht mehr Europa? Egal. Ob Europa oder Asien, was interessiert das noch hier oben. Sollen sich die Wissenschaftler unten im Tal darüber streiten. Die Fernsicht jedenfalls reicht weit von Asien nach Europa. Und dann blicken die Bergsteiger hinunter ins Baksan-Tal, wo der real zerfallende Sozialismus mit Wodka und Schaschlick auf sie wartet.
© Bergsturz