Ich war ein Finder. Ich fand Dinge. Zufällig. Dinge, die andere Leute liegen gelassen hatten. Gegenstände, die nur selten von großem Wert waren. Die aber fast immer einen Nutzen für mich hatten: Handschuhe, 50-Cent-Stücke, frische Brötchen. Es machte mich stolz, ein Leben als Finder zu führen. Vielleicht, weil mir das Wenige, das ich fand, zur Zufriedenheit genügte. Vielleicht auch, weil mein Finderdasein etwas von einem Geier hatte. Ich machte sauber.
Mag sein, daß Sie mir nicht glauben, doch diese Tätigkeit erforderte viel Erfahrung. Vor allem die Fähigkeit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, dort, wo die Leute viel Dreck machen, ihre Sachen einfach liegenlassen, absichtlich oder aus Nachlässigkeit, was weiß ich. Man braucht eine Menge Gespür, schließlich eignen sich nicht alle Plätze gleich gut, fündig zu werden. Bahnhöfe, Züge, Busse sind geradezu ideal. Verschmierte und verdreckte Orte. Zeitungen liegen herum, halb angefressene Burger quellen aus aufgerissenen Papiertüten, halb leere Bierdosen stinken vor sich hin. Manchmal auch etwas wertvolles. Oder nützliches. Ein Handy, ein Buch, ein Kugelschreiber.
Parkbänke können ergiebig sein. Im Sommer, am Abend, wenn die Leute sich erheben und – in Gespräche vertieft – nach Hause gehen, achten sie nicht darauf, was sie zurücklassen. Vielleicht, weil sie vergeßlich sind. Oder weil sie sich erst vor kurzem verliebt haben und ihnen nun anderes wichtiger ist als irgendein Gegenstand. Ich verabscheue sie, diese Nachlässigkeit.
Sie müssen vorsichtig sein als Finder. Man könnte Sie beobachten. Auch wenn es nicht so aussieht: Es ist eine Art Kunst, herrenlose Gegenstände möglichst unauffällig an sich zu nehmen. Behalten Sie nicht nur das Objekt, sondern auch Ihre Umgebung im Auge. Die größte Schmach für einen Finder ist es, vor anderen Leuten bloßgestellt zu werden: nicht als Finder, sondern als Dieb.
Ein guter Finder hat lang und hart trainiert. Die ersten zwei Jahre beschränkte ich mich darauf, zu beobachten. Auch wenn es mir schwer fiel, vermied ich es, nach fremden Dingen zu greifen.
Falls Sie jemals Finder sein wollen, seien Sie gewarnt. Lernen Sie Situationen kennen, lernen Sie, diese Situationen einzuschätzen. Halten Sie sich zurück, vor allem dann, wenn es sehr verlockend sein mag. Es könnte eine Falle sein.
Später, wenn Sie tatsächlich zugreifen, wenn Sie also für Ordnung sorgen, versichern Sie sich, daß die Gegenstände, die Sie an sich nehmen, wirklich keinen Besitzer mehr haben. Der ursprüngliche Eigentümer könnte plötzlich an den Ort des Verlustes zurückkehren. Weil ihm der Verlust bewusst geworden ist. Oder weil er sich eines anderen besonnen hat.
Das Radio
Sollte aber niemand kommen, müssen Sie kein schlechtes Gewissen haben. Denn wer so mit den Dingen umgeht, hat kein Interesse an ihnen.
So war es mit diesem kleinen Radio. Es lag auf der Parkbank und schien niemandem zu gehören. Ich freute mich, denn schon immer wollte ich ein derartiges Radio besitzen. Eine praktische Sache. Man kann es in die Jackentasche stecken und überall mit hinnehmen. So setzte ich mich, zog eine Zeitung hervor, beobachtete meine Umgebung und wartete. Finder müssen Geduld haben. Immerhin hätte es sein können, daß der ehemalige Besitzer plötzlich aus einem Busch … . Man hätte mir nichts nachweisen können.
Aber niemand kam. Niemand auch, der mich ansprach. So ernannte ich mich nach etwa sechs Minuten zum neuen Besitzer des Radios, steckte es unter meine Jacke und ging – bestärkt in der Überzeugung, ein guter Finder zu sein – nach Hause.
Damit begann meine beste Zeit. Denn plötzlich schärfte sich mein Auge für all die herrenlosen Gegenstände, die herumlagen und unsere Welt verschmutzten durch ihre pure Anwesenheit, offensichtlich vergessen, liegen- und arglos zurückgelassen, wo doch jeder darauf achten sollte, daß er keine Spuren hinterläßt in dieser dicht gedrängten Welt. Das ging so sechs, sieben Jahre, so genau weiß ich das nicht mehr, wenngleich Sie einwenden könnten, der Ordnung halber und vor allem als Finder sollte ich nicht so nachlässig mit der Zeit umgehen. Ich fand Papierfetzen mit Nachrichten in krakeliger Schrift, nur für bestimmte Personen bestimmt; Schuhe, die ihrem früheren Besitzer offenbar nicht mehr dienten, obwohl die Sohlen noch Profil hatten und das Leder ohne Risse war; Tassen und Gabeln, weil irgendjemand angenommen hatte, nach seinem Picknick könnte er diese Utensilien einfach liegenlassen.
Ich war glücklich. Weil ich Erfolg hatte. Weil ich mit Adleraugen durch diese schwer durchschaubare Welt streifte und dank meiner Strategie und meiner Erfahrung fand, was ich suchte: Vergessenes, verlorenes Gut, Strandgut der Gesellschaft.
Die Veränderung
Doch dann, ich glaube es war ein Montag, bemerkte ich eine Veränderung. Nicht, dass mich meine Finderfähigkeiten verließen, doch Anzeichen, die mich nachdenklich machten. Ich fuhr mit dem 59er Bus nach Hause. Wie immer schweifte mein Finderblick umher, bis er hängenblieb an einem weißen Etwas, einer Plastikfolie, die über mir in der Gepäckablage lag. Ein neuer Fund, das war mir sofort klar. Doch ich ermahnte mich, Ruhe zu bewahren. Wichtig war, kein Aufsehen zu erregen. Immerhin waren außer mir und dem Fahrer noch zwei Damen im Bus. Unwahrscheinlich, aber möglich, daß ihnen das Paket gehörte.
Mehrmals schielte ich zu der Ablage hinauf, aus den Augenwinkeln, denn die älteren Damen saßen schräg hinter mir. Ich spürte ihre Blicke in meinem Nacken und ich ahnte, dass auch sie es auf das Paket abgesehen hatten, auf dieses weiße Etwas, einen Pullover oder ein T-shirt, das konnte ich bis dahin noch nicht sagen. Egal, Kleidungsstücke, sofern sie XL waren, konnte ich immer gebrauchen.
Ich wartete, bis der 59er an einer der nächsten Haltestellen bremste, erhob mich von meinem Sitz und griff im selben Moment nach dem Paket, so daß es wie eine fließende Bewegung war, hangelte mich zur Tür und trat auf den Gehweg. Möglichst normal tun, sagte ich mir. Doch dann – entgegen meiner sonst so souveränen Art als Finder – warf ich noch einmal einen kurzen Blick auf die beiden Damen, die mich durch die Scheibe hindurch ansahen, und in ihren Augen glaubte ich ein seltsames, abschätzendes Lächeln zu entdecken. Als wollten sie sagen: Armer Kerl, dass du das nötig hast.
Ich fühlte mich ertappt und eilte nach Hause. Kaum daß ich meine Wohnung betreten hatte, riß ich die Plastikfolie meines Fundes auf, faltete das weiße, blütenweiße T-shirt, Größe XL, auseinander – was für ein prächtiges Stück – da sah ich ihn, den Aufdruck. Ein Kondom, ein aufgerichtetes Kondom, das vom Bauchnabel bis zum Hals reichte.
Dieses Ereignis schwächte mein Selbstvertrauen. Ich hatte einen Fehlgriff getan. Und ich war ertappt worden. Das durfte einem Finder nicht passieren. Ich ließ einige Tage passieren, an denen ich mich auf Beobachtungen beschränkte. Ich betrachtete Dinge, die zurückgelassen worden waren, ohne Absicht, sie anzurühren. Ich beobachtete die Leute um mich herum und fragte mich, ob sie wahrnahmen, was ich wahrnahm. Doch sie schienen arglos. So fühlte ich mich nach einer Woche wieder stark genug, meiner Berufung als Finder nachzugehen.
Der Schirm
Ich fuhr mit dem Regionalexpress um 10.30 Uhr in die Stadt, als mein Blick auf einen Regenschirm fiel, der schräg gegenüber auf einem Sitz lag. Ein großes schwarzes, ein schönes und sicherlich praktisches Stück, einfach liegengelassen, offenbar ohne Bedeutung für seinen früheren Besitzer. Wieso sonst hätte er es zurücklassen sollen? Und selbst, wenn dieser Schirm für seinen früheren Eigentümer eine Bedeutung hatte, so geschah es dieser Person recht, sich nun mit Wehmut an diesen Gegenstand zu erinnern. Nun jedenfalls lag der Regenschirm einfach da auf diesem Sitz, schien keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen und brachte meinen Sinn von Ordnung durcheinander.
Ich besitze nur einen kleinen, zusammenlegbaren Schirm, der den Nachteil hat, dass er bei starkem Regen lediglich die obere Körperhälfte trocken hält. So erstaunt es nicht, wenn plötzlich mein altes, wenn auch nicht immer sehr ausgeprägtes Bedürfnis erwachte, endlich einmal Besitzer eines großen Regenschirms zu sein.
Der Zug hielt und fuhr weiter und Leute stiegen ein und aus, doch den Schirm beachteten sie nicht. Ich sah aus dem Fenster, sah den Regen, und dachte, daß mir der Schirm bereits heute noch gute Dienste leisten würde.
Es blieben noch zwei Minuten, bis ich aussteigen würde. Ich zog meine Jacke an, griff nach meiner Tasche und machte einen Schritt in den Gang, auf die Sitzbank mit dem Schirm zu. Schon bremste der Zug, schon fuhren wir in den Bahnhof ein, und soeben wollte ich mich nach vorne beugen, um den Schirm an mich zu nehmen, da kam mir eine Hand zuvor. „Ist das Ihrer?“, fragte mich ein älterer Mann. „Ich wollte ihn gerade dem Schaffner bringen“, erwiderte ich. „Lassen Sie nur“, sagte der Mann, „ich mache das schon“. Er lächelte.
Ich lief den Bahnsteig entlang. Vor mir der Mann. Er ging am Schaffner vorbei, stieg die Treppen hinab, durchschritt die Bahnhofshalle, trat hinaus ins Freie, wo er kurz innehielt, nach oben blickte und dann diesen prächtigen schwarzen Schirm über sich aufspannte.
Zwei Wochen lang zog ich mich in mein Zimmer zurück. Wenn ich es für kurze Augenblicke verließ, dann nur, um mir im Billig-Markt an der Ecke Lebensmittel zu kaufen. Tiefgekühlte Fertiggerichte, Serbischen Bohneneintopf aus der Dose und abgepackte Salami zu 2,99 Mark für 150 Gramm. Ich war tief getroffen. Man war mir zuvor gekommen. Ein Laie offensichtlich hatte mich mit einer einfachen Frage disqualifiziert. So etwas durfte einem Finder nicht passieren.
Am vergangenen Sonntag hatte ich wieder ausreichend Mut geschöpft. Ich wollte es noch einmal versuchen. Es war 16.30 Uhr, als ich nach drei Stunden ziellosen Umherirrens nach Hause fahren wollte. Acht Stationen mit dem Zug. Er hatte Verspätung, und so setzte ich mich auf eine Bank, wartete und sah den Leuten zu, die an mir vorbeigingen. Es war einer dieser Sonntagnachmittage, an denen Melancholie und Ereignis¬losigkeit eins geworden waren, an denen nichts geschah, und an denen auch nichts mehr geschehen würde. Einer jener Sonntagnachmittage, von denen nichts zu erwarten war. Ich hatte beschlossen, mich für den Rest des Tages in mein Bett zu legen, den Fernseher einzuschalten und eine Flasche Rotwein zu leeren.
Das Paket
Eben das malte ich mir in Gedanken aus, als dieses Paket neben mir entdeckte. Unschuldig lag es auf der Bank neben mir, vergessen oder absichtlich zurückgelassen, was weiß ich. Lag da und drängte sich geradezu auf, mitgenommen zu werden. Offensichtlich war ich dazu bestimmt, es an mich zu nehmen. Wie sonst hätte man sich diese Begegnung erklären sollen? Mit dieser Erkenntnis beugte ich mich über das Paket, um es ein wenig zu öffnen. Ich riss ein Stück der Papierumhüllung auf, und was ich sah, ließ diesen Nachmittag plötzlich viel freundlicher erscheinen: Torten, vier Stücke, wie ich auf die Schnelle erkannte. Eine Erdbeertorte, eine Schwarzwälderkirsch, ein Käseteilchen und ein beachtliches Stück Eierlikörtor¬te. Vier stattliche Stücke, offenbar noch ziemlich frisch, denn die Sahne war – wie ich durch einen Fingerdruck bemerkte – noch ganz weich. Ich malte mir aus, wie ich Kaffee kochen, den Tisch mit Decke, Kerze und sauberem Besteck zieren und dann loslegen würde: Mit Vorfreude auf das Kommende das erste Stück, mit Wohlwollen das zweite Exemplar, genüsslich Nummer drei und schließlich, wenn auch der Kaffee allmählich zur Neige ging, würde ich als Krönung das vierte Stück Torte in mich hineinzwingen: die Schwarzwälderkirsch. Was für eine Freude, was für eine Qual, was für ein Sonntagnachmittag.
So dachte ich, als sich ein Herr auf der anderen Seite des Tortenpakets, meines Pakets, niederließ. Eine elektronische Anzeige sagte mir, daß erst der Zug zur Südstadt einfahren und dann, zwei Minuten später, mein Zug kommen würde. Nicht mehr lange also, bis ich mich dem Genuß hingeben konnte. Schon rauschte eine Windwalze heran, die der erste Zug vor sich herschob. Er tauchte aus einer Tunnelröhre in die Neonhelle des Bahnsteigs und bremste. Ich konnte ihn förmlich riechen, den Kaffee, ich sah sie vor mir, die Teller und Tassen, und zwei Meter weiter der Fernseher, der den Musikantenstadl oder die Lindenstraße in mein Zimmer übertragen würde, so lange ich die vier Tortenstücke verzehrte.
Fast stand er schon, der Zug. Die Leute erhoben sich von ihren Bänken und strömten auf die Türen zu, die sich nun öffneten. Mit ihnen erhob sich auch der Mann, der neben mir gesessen war. Gemächlich und ohne nach rechts oder links zu schauen, ging er auf den Zug zu. Und erst, als er in den Waggon trat und sich dabei mit einem Lächeln zu mir umdrehte, sah ich das Paket in seinen Händen.
Hier sitze ich, schon seit Stunden, und nippe an einem Glas Bier. Sitze herum und stiere vor mich hin. Haben Sie den Mann da draußen gesehen? Fegt die Zigarettenkippen auf. Vorhin hat einer seinen Schal liegen gelassen. Es hat keine fünf Minuten gedauert, und ein anderer hat ihn an sich genommen. Was bleibt da noch für mich zu tun?
Die Dinge liegen herum, und ich gehe an ihnen vorbei. Ich habe meine Berufung verloren. Ich bin kein Finder mehr. Es gibt zu viele davon. Immer andere, die für Ordnung sorgen.