Wie schafft man es, als eigentlich bahnfreundlich eingestellter Mitbürger, an der Bahn zu zweifeln? Indem man Bahn fährt. Je öfter man fährt, desto mehr zweifelt man. Die Zweifel steigern sich zur Verzweiflung, die Verzweiflung zur Wut. Weil man den Eindruck hat, dass das Unternehmen (die Unternehmen) es nicht nur nicht kann, sondern ihre Kunden systematisch für dumm verkauft. Um es drastisch zu formulieren: Die Bahn, und hier ist auch die S-Bahn München gemeint, verarscht einen nicht nur einmal. Diese Organisationen schaffen das Kunststück, ihre Kunden innerhalb kurzer Zeit gleich mehrfach zu verarschen.
Beispiel 1:
S-Bahnhof Grafing Stadt: Wir wollen nach München. Es gibt stündlich eine Regionalbahn, die Grafing Stadt um xy:44 Uhr verlässt. Kurz darauf soll sie in Grafing Bahnhof ankommen, nicht einmal zwei Kilometer entfernt, wo der Fahrgast dann in den Meridian um xy:51 Uhr nach München umsteigen kann.
Das Problem: In geschätzt 50 Prozent der Fälle kommt die Regionalbahn in Grafing Stadt einige Minuten, manchmal auch zehn Minuten, zu spät an. Das heißt, der Anschlusszug in Grafing Bahnhof ist damit weg. Das macht man einmal, zweimal, fünfmal. Irgendwann hat man den Glauben an die Verlässlichkeit der Regionalbahn verloren und man fragt sich, wieso die Bahn überhaupt einen Fahrplan eingeführt hat, wenn sie ihn nicht einhält? Leute, dann lasst die Regionalbahn doch irgendwann kommen, nach dem Zufallsprinzip, aber suggeriert nicht eine Anschlussverbindung, die es de facto nicht gibt. Übrigens: Jeder halbwegs mitdenkende Mensch in Grafing, der den Meridian in Grafing Bahnhof erwischen will, fährt mittlerweile mit dem Rad oder mit dem Auto direkt dorthin und verlässt sich nicht auf die Regionalbahn.
Beispiel 2:
Grafing Bahnhof. Wir sind mit dem Radl angereist und wollen auf Gleis 3 den Meridian um xy:51 Uhr nach München nehmen. Es wäre wichtig, wir haben einen Termin. Die elektronische Zuganzeige verkündet, dass es aufgrund von technischen Probleme zu Fehlern bei der Wagenstandsanzeige kommen könne, aber das tangiert uns eigentlich nicht. Immerhin ist der Meridian pünktlich angekündigt. Am selben Bahnsteig gegenüber wartet auf Gleis 2 eine S-Bahn, die einige Minuten vor dem Meridian nach München und dann weiter nach Tutzing fahren wird. Doch der Meridian ist schneller, denn er hält unterwegs nicht. Im Übrigen droht keine Gefahr, denn es gibt keine Durchsage, die eine Anormalität im Fahrplanverlauf andeuten würde.
Die S-Bahn fährt ab. Kurz danach schaltet die elektronische Zuganzeige um und verkündet, dass der nächste Meridian in 59 Minuten nach München fahren wird. Etwa 50 wartende Personen hat die Bahn in diesem Moment als Freunde verloren. Die fragen sich, wieso es die Bahn nicht fertig bringt, ihre Kunden im digitalen Zeitalter wenigstens korrekt zu informieren, wenn sie es schon nicht schafft, ihre Züge nach Fahrplan fahren zu lassen?
50 Personen strömen daraufhin durch die Unterführung in Richtung Gleis 1, weil dort in etwa 20 Minuten die nächste S-Bahn nach München abfahren soll. Der Lautsprecher schweigt. Irgendwann, so nach 15 Minuten, fährt auf Gleis 2 eine aus München kommende S-Bahn ein, die die Sicht auf Gleis 3 nimmt, wo üblicherweise der Meridian verkehrt. Plötzlich Hektik auf dem Bahnsteig: Still und heimlich scheint auf Gleis 3 der Meridian nach München eingefahren zu sein, der eigentlich 58 Minuten zu spät angekündigt war, nun aber nach etwa 20 Minuten kommentarlos und wie aus dem Nichts auftaucht. Eine Lautsprecherdurchsage dazu gab es jedenfalls nicht. Bahnfahren in Grafing Bahnhof ist Bahnfahren nach Beobachten und Gefühl. 50 Menschen stürzen sich die Treppe hinunter, rennen durch den Untergrund, stürzen drüben wieder rauf. Manche schaffen den Geister-Meridian, manche nicht. Aber alle fühlen sich gleich zweifach von dem Unternehmen Bahn durch den Kakao gezogen. Es gäbe eine drastischere Wortwahl, aber die haben wir teilweise schon verbraucht.
Beispiel 3:
Eine S-Bahn der neuen Generation auf dem Weg nach München. Die Fahrgäste werden per digitalem Screen begrüßt, mit den Annehmlichkeiten des Zuges vertraut gemacht und in die aktuelle Nachrichtenlage eingeführt. Es werden auch die folgenden Stationen angekündigt. Allerdings wird nicht mitgeteilt, an welcher Station die S-Bahn sich gerade befindet, was drei ältere Damen im Abteil in Unruhe versetzt. Im Übrigen wird den Fahrgästen mitgeteilt, dass die S-Bahn durch die sogenannte Stammstrecke unter München fahren werde mit Halt an allen Stationen. Das wiederum ist eine glatte Fehlinformation, denn es ist Wochenende, und an diesem Wochenende ist die Stammstrecke wegen Bauarbeiten komplett gesperrt. Da spielt es eigentlich keine große Rolle, dass auch die angezeigte Uhrzeit um eine Stunde hinterher hinkt. Man fragt sich: Was für Dilettanten arbeiten bei der S-Bahn in der IT?
Beispiel 4:
Poing, morgens um 8:54 Uhr. Um 9:00 Uhr soll eine S-Bahn nach München fahren. Was für ein Glück, dass wir etwas früher dran sind, denn die S-Bahn fährt bereits jetzt ein. Etwa 15 Minuten später steigen wir in Berg am Laim um in die S-Bahn Richtung Ebersberg. Die soll um 9:22 Uhr abfahren. Eine Stimme verkündet über Lautsprecher, dass die S-Bahn nach Ebersberg fünf Minuten später kommen werde. Tatsächlich kommt sie vier Minuten früher. Wir fassen das mal als positives Ereignis auf, zweifeln andererseits aber wieder an der Fähigkeit des Unternehmens, korrekt zu kommunizieren, wann deren Züge wo ankommen und abfahren. Wissen die nicht, wo sich ihr Zugmaterial gerade befindet? Wieso können Fluggesellschaften auf die Minute genau beim Abflug in Frankfurt die Ankunft in Lissabon, New York oder Teheran vorhersagen, nicht aber die Münchener S-Bahn die exakte Ankunft ihrer Züge? Selbst Google weiß ständig, wo ich mich befinde? Irrlichtern die Waggons der S-Bahn irgendwo im Netz herum? Haben die keine Computer? Da könnte man schon in Sorge geraten!
Beispiel 5:
Wir haben einen Termin in Tübingen. Einen wirklich wichtigen Termin. Vier Personen warten ab 12 Uhr auf uns. Wir könnten mit dem Auto von Grafing nach Tübingen fahren, aber wir wollen die Umwelt schonen und außerdem die Zugfahrt zum Arbeiten nutzen. Zudem haben wir ausreichend Zeitpuffer eingeplant – wir werden Tübingen Hauptbahnhof gegen 10:45 Uhr erreichen. Selbst wenn bei der Anreise etwas schief läuft, sollte das mit dem Puffer auszugleichen sein.
Der Start in Grafing Stadt verläuft schlecht. Die S-Bahn um 6:47 Uhr nach München kommt nicht. Es gibt auch keine Durchsage. Es gibt gar nichts. Wenn es eine Durchsage gegeben hätte, wären wir mit dem Fahrrad nach Grafing Bahnhof gefahren, um um 6:51 Uhr den Meridian zu nehmen. Aber wer nichts weiß, der kann nicht handeln. Wir scannen das Smartphone. Das sagt etwas von Polizeieinsatz auf der Stammstrecke und Verzögerungen sowie Zugausfällen bei allen S-Bahn-Linien. Die Stammstrecke ist die Achillesferse der Münchener S-Bahn. Wenn da etwas stockt, stockt es überall. Und es stockt dort oft. Meist ist die Begründung „Signal-, Weichen- oder Stellwerkstörung“.
München setzt auf die große, teure Lösung. München baut eine zweite Stammstrecke, einige hundert Meter neben der existierenden Trasse. Die kostet ein Vermögen und soll irgendwann fertig werden. Es gäbe eine einfache, schnelle Lösung. Vom Ostbahnhof führt eine zweigleisige Bahnstrecke südlich um die Innenstadt herum und trifft westlich des Hauptbahnhofs wieder auf das zentrale Gleisnetz. Man könnte diese Gleislinie verstärken und dort S-Bahnen fahren lassen. Aber das wollen die Münchener irgendwie nicht.
Um 7:07 Uhr kommt eine Regionalbahn in Grafing Stadt an, die über den Ostbahnhof zum Hauptbahnhof fährt. Das ist einerseits gut, weil wir damit die gesperrte Münchener Stammstrecke umfahren, das ist andererseits zu spät, um den ICE nach Stuttgart zu erreichen. Am Ostbahnhof steht am Gleis gegenüber ein IC, der über Stuttgart nach Karlsruhe will – das würde passen, nur können wir auf die Schnelle nicht recherchieren, wann der abfährt, und ob der über den Hauptbahnhof fährt.
München Hauptbahnhof. 7:30 Uhr. Der ICE ist weg. Auf die Frage nach der schnellsten Möglichkeit nach Tübingen nennt die Dame von der Auskunft eine Verbindung, die um 12.12 Uhr ankommt. Das ist zu spät, geben wir zu bedenken. Da muss es doch etwas Schnelleres geben. Die schnellste Verbindung nach Tübingen ist die um 12.12 Uhr, sagt die Frau nach erneutem Blick auf ihren Bildschirm. Soll ich Ihnen das ausdrucken?
Per Smartphone gehen wir auf Recherche. Unser ICE kommt um 9:47 Uhr in Ulm an. Um 9:54 Uhr fährt dort ein Regionalexpress nach Plochingen ab, Ankunft Plochingen um 10.41 Uhr. Um 10:44 Uhr fährt von dort ein Regionalexpress nach Tübingen, Ankunft 11:23 Uhr. Zugegeben, das sind knappe Umsteigezeiten. Aber das weist der Fahrplan der Deutschen Bahn aus. Wenn sie den also einhält, sollte diese Verbindung möglich sein. Und überhaupt: Wieso hat man diese Auskunft nicht von der DB-Auskunftsdame am Münchener Hauptbahnhof erhalten, die wir immerhin explizit nach der „schnellsten Verbindung“ nach Tübingen gefragt haben? Wie, bitteschön, sind deren Computer programmiert?
Der ICE fährt nahezu pünktlich um 9:49 Uhr in Ulm ein. Wir haben fünf Minuten zum Umsteigen. Der Regionalexpress nach Plochingen steht abfahrbereit. Doch er fährt nicht ab. Er fährt wegen „Gleis vor uns ist belegt“ etwa fünf Minuten später als vorgesehen ab. Das ist schlecht, denn unsere Umsteigezeit in Plochingen beträgt drei Minuten. Zudem fährt der Regionalexpress mit einer Gemütlichkeit durch die schwäbischen Lande, dass man den Eindruck gewinnt, auf jedem Kilometer Strecke eine weitere halbe Minute an fahrplanmäßiger Zeit zu verlieren. Als irgendwann der Schaffner vorbeikommt und wir ihn darauf ansprechen, dass wir dringend in Plochingen den Anschluss erwischen müssen, sagt er, das treffe für mehrere andere Fahrgäste auch zu. Er habe schon telefoniert, aber bisher keine Bestätigung erhalten. Wir bitten nachdrücklich, er möge nochmal nachfragen, was der gute Mann mit der Bemerkung „Sie verzweifeln wohl gerade an der Deutschen Bahn“ dann auch tun will. Nur leider nimmt am anderen Ende der Leitung minutenlang niemand ab.
Kurz vor Plochingen erwischt er dann einen Verantwortlichen, der sich aber auf den Fahrplan und ein anderes Problem beruft und daher nicht garantieren könne, den Tübinger Zug warten zu lassen. Wir sehen unseren Termin – vier Leute warten, es geht um unsere Zukunft – davongleiten. Dann ruft der Zugbegleiter den Lokführer des Tübinger Zuges an. Woher auch immer er dessen Handynummer hat. Der Lokführer des Tübinger Zuges sagt, er habe mehrere Minuten Verspätung, also alles kein Problem. Ist das nicht irre? Die Deutsche Bahn funktioniert letztlich, weil das ganze System Verspätung hat.
Einige Stunden später. Rückfahrt von Tübingen nach Grafing. Kein Termin wartet, aber es wäre trotzdem prima, abends gegen 21 Uhr zuhause anzukommen. Der Zug von Tübingen nach Plochingen bummelt dahin. Am Ende hat er acht Minuten Verspätung. Sechs Minuten hätten wir zum Umsteigen gebraucht. Als wir in Plochingen einfahren, fährt der IC nach München gerade aus. Oh Deutsche Bahn. Möge der Herr Dir einen Fahrplan geben, der Gültigkeit habe auf Immer und Ewigkeit, und solltest Du dagegen verstoßen, mögest Du vielleicht nicht verdammt sein, aber so solltest du werden eine Tochtergesellschaft des Flughafens Berlin Brandenburg. Ihr wärt ein tolles Paar.