Hurtigrutens Mogelpackung

Kreuzfahrtunternehmen, Trekkingveranstalter und Wüstenfahrer verkaufen ihre Reisen gerne als Expeditionen. Das ist meistens glatt gelogen. Echte Expeditionen gibt es in unserer Welt kaum noch – höchstens zu uns selbst.

 

Eine Expedition ist qua Definition die Forschungsreise einer Personengruppe in unerschlossene beziehungsweise vorher nicht betretene Gebiete. Insofern ist es eine gewagte Aussage der norwegischen Postschiffgesellschaft Hurtigruten, Expeditionen ins Land der Mitternachtssonne – in diesem Fall Spitzbergen – anzubieten. Was es mit einer Expedition zu tun hat, wenn man eine bereits tausendfach bereiste Region bei einem Cocktail vom bequemen Clubsessel aus betrachtet, bleibt das Geheimnis der mittlerweile zum Touristikkonzern mutierten Firma.

Immerhin, um werbende Worte ist Hurtigruten nicht verlegen. Mit kräftigen Adjektiven lockt das Unternehmen, dieses „einzigartige“ und „bedrohte“ Naturreservat zu besuchen. Von einer „einmaligen Expedition nördlich des Polarkreises“ ist die Rede, eventuell werde sogar der 80.Breitengrad überfahren – wahrscheinlich fühlen sich die Expeditionsteilnehmer dort besser als südlich davon. Eventuell sehen sie sogar einen Eisbären. Potenzielle Expeditionisten sollten also schnell buchen, ehe das Naturjuwel an Glanz verliert und der Eisbär mit der abtauenden Eisscholle im Meer versinkt. Da scheint es eher nebensächlich, dass die Schiffe, wenngleich mit „fortschrittlicher Umwelttechnologie“ ausgestattet, durch ihren CO2-Ausstoß einen Beitrag leisten, den Eisschwund zu beschleunigen.

Organisierte Reisen mit Komfort

Auch Outdoor- und Alpinreiseveranstalter nehmen den Begriff Expedition gerne in den Mund. Firmen wie Amical Alpin, Diamir oder Kobler & Partner führen eigene Rubriken mit diesem Titel. Gemeint sind damit durchorganisierte Reisen zu hohen Bergen bei größtmöglichem Komfort: Träger schleppen die Lasten, Köche sorgen für das Wohlbefinden, es gibt Duschen und zumindest zeitweise Internet. Mittels aktuellem Wetterbericht wird das bestmögliche Zeitfenster für einen Gipfelaufstieg ermittelt und damit das Risiko von störender Wolkenbildung reduziert.

Zugleich dehnen die Veranstalter die Bedeutung des Begriffs Expedition weit aus: Hauser Exkursionen bezeichnet beispielsweise die jährlich hundertfache Besteigung des 6962 Meter hohen Aconcagua in Argentinien als eine eben solche Expedition. Tatsächlich handelt es sich dabei um einen alpinen Spaziergang, wenngleich in stattlicher Höhe.

Die Firma Arktis Tours übt sich hingegen in kreativer Wortschöpfung und verkauft „Expeditions-Kreuzfahrten“, versucht also, entbehrungsreiche Neulandsuche mit Komfort zu vereinen. Das ist in etwa so, wie mit dem Reisebus die Großglocknerstraße hinaufzufahren und die traurigen Gletscherreste zu betrachten. Oder per Glacier-Express durch die herausgeputzte Schweizer Alpenwelt zu rollen. Nett und angenehm, hat aber mit einer Expedition nichts zu tun. Übrigens: Für 27.695 Euro kann man sich bei Arktis Tours auch mit einem Atomeisbrecher durch das dank Klimaerwärmung brüchige Eis zum Nordpol bringen lassen und sich dort für ein Social-Media-würdiges Foto Hand in Hand mit anderen wagemutigen Expeditionsteilnehmern im Kreis um den Pol aufstellen. Man sollte nur aufpassen, nicht zu weit nach hinten zu treten, da die Schollen recht fragil sind.

Zeit für Expeditionen ist vorbei

Auch wenn es uns die Marketingleute von Hurtigruten und Co. glauben machen wollen: Die Zeit für echte Expeditionen ist vorbei. Nahezu sämtliche Punkte unserer Erde sind betreten, die wesentlichen Bergwände durchstiegen, die Pole zigfach besucht, Höhlen vermessen und Wüste durchfahren. Expeditionen waren früher, als Scott und Amundsen zum Südpol und die Amerikasiedler gen Westen aufbrachen. Christoph Kolumbus, Marco Polo und Alexander von Humboldt erforschten wahrhaftig Neuland und sammelten neue Erkenntnisse. Auch die Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay konnte man getrost in die Kategorie Expedition einordnen.

In unserer Zeit könnte man dagegen vielleicht noch die einjährige Forschungsfahrt der Polarstern in die Arktis als Expedition betrachten, zumindest als wissenschaftliche. Es mag auch einzelne Täler im Himalaya oder Karakorum geben, in die bislang kaum ein Mensch vorgedrungen ist. Doch grundsätzlich ist unsere Erde weitgehend abgegrast.

Wenn Unternehmen heute dennoch den Begriff Expedition benutzen, wollen sie den Teilnehmern eine Einzigartigkeit suggerieren, die so nicht existiert. Genau genommen handelt es sich bei der Wahl dieses reisetechnischen Superlativs um Kundentäuschung. Natürlich klingt Expedition besser als Ausflug, Reise oder Besteigung. Und natürlich lassen sich die zahlenden Gäste gerne umschmeicheln, indem man ihnen einflüstert, ihre Unternehmung sei etwas Besonderes. Nein, sie ist es nicht! Viele andere vor ihnen waren auch schon da. Die Fahrt mit einem luxuriösen Schiff in eine Eisbergbucht, der Besuch des Everest-Basislagers, die Durchquerung des patagonischen Inlandeises oder die Besteigung des 8000ers Cho Oyu sind organisierter Tourismus in nicht mehr jungfräuliche Regionen. Kurz: Marketing-Mogelpackungen.

Wer heute eine sogenannte Expedition antritt, ist so wenig Entdecker wie angebliche Influencer, die sich in Schluchten oder auf Gebirgsbachbrücken in Pose setzen und dies in die digitale Welt posten. Die eigene Leistung ist dabei meist nicht herausragend. Oft geht sie gegen Null. Außergewöhnlich ist nur die Überhöhung der eigenen Person, die glaubt, ein bislang unentdecktes Kleinod gefunden zu haben und dafür nun Bewunderung erwartet: „Wahnsinn, Du in dieser krassen Landschaft. Wie bist Du da nur hingekommen? War das nicht gefährlich?“ Nein, war es nicht. Nur 30 Minuten Fußmarsch.

Expedition zu sich selbst

Wer heute echtes Neuland betreten will, ist arm dran. Da alles bereist, beschrieben und gezeigt worden ist, liegt die einzige Möglichkeit auf unserer Suche nach dem Außergewöhnlichen darin, neue Ziele zu finden. Dafür müssen wir nicht mal weit reisen, die großen Herausforderungen liegen oft bei uns selbst. Manche definieren diese für sich als höher, schneller, weiter: Die Matterhorn-Nordwand in weniger als zwei Stunden. Den Triathlon in gut 7,5 Stunden. Für die anderen besteht die Expedition zu sich selbst in Veränderung und Entwicklung: Nach einer schweren Erkrankung erstmals wieder um das eigene Haus gehen. Zehn Kilo abnehmen. Den Job wechseln und seinem Leben eine neue Richtung geben. Mit dem Rad von Nord nach Süd oder von Ost nach West durch Deutschland fahren. Vielleicht auch, sich von seinem Partner zu trennen, den man ohnehin nicht (mehr) liebt, dann den Motor starten und gen Kapstadt fahren.

Die wahren Expeditionen unserer Zeit sind nicht die Hurtigruten-Mogelpackungen, sondern die persönlichen Gipfel und Pole. Das kann faszinierender sein als der Blick aufs sterbende Eis.

Foto: Schüller

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